Politik & Gesellschaft

Fachkräftesicherung: Blickpunkt Ostdeutschland

Der Arbeitsmarkt in ganz Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Klagen über Fachkräfteengpässe sind bereits in aller Munde. Auch wenn es de facto (noch) keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt, sind einzelne Branchen und Regionen bereits jetzt betroffen. Um dem entgegenzuwirken, sind Wirtschaft und Politik gleichermaßen gefragt:

Unternehmen müssen sich verstärkt darum bemühen, bei Schülerinnen und Schülern frühzeitig Interesse an einer Tätigkeit in einem Betrieb zu wecken; Länder und Kommunen müssen intensiv für die Potentiale ihrer Regionen werben und deutlich machen, was es dort an Ausbildungsmöglichkeiten, Berufsperspektiven und Lebensqualität alles gibt (und sie müssen sich dabei ganz besonders um die strukturschwachen Gebiete kümmern).

Ostdeutschland steht dabei vor spezifischen Herausforderungen. Zum einen sind wir in den neuen Ländern mit der Situation konfrontiert, dass die Bevölkerung in der Mehrzahl der Kommunen schrumpft. Zwar ist der Saldo der Ost-West-Wanderung heute nahezu ausgeglichen, aber der vorangegangene Aderlass über viele Jahre hinweg war einfach zu groß! Auch der Anstieg der Geburtenziffer und die Zuwanderung aus dem Ausland können den Rückgang und die Alterung der Bevölkerung nicht aufhalten. Diese Entwicklung führt dazu, dass der Anteil der Menschen im Erwerbsalter deutlich kleiner wird. Bereits heute haben wir in den neuen Ländern eine Abnahme der Anzahl der Schulabgänger sowie der Ausbildungs- und Hochschulabsolventen zu konstatieren. Ähnliches gilt für den Arbeitsmarkt: Der Anteil der Betriebe mit unbesetzten Stellen liegt in Ostdeutschland mit 41 Prozent fünf Prozentpunkte höher als im Westen; bei offenen Fachkräftestellen lag die Nichtbesetzungsquote in den neuen Ländern erstmals im Jahr 2015 oberhalb der in Westdeutschland.

Die sogenannte Kleinteiligkeit der Unternehmensstruktur in den neuen Ländern hat Konsequenzen. Das Fehlen von Großunternehmen und Konzernzentralen führt nicht nur dazu, dass es zu wenig Innovationszentren gibt, die Ausstrahlungskraft auf den Mittelstand entfalten. Außerdem sind ostdeutsche Unternehmen im Vergleich zu westdeutschen häufig nicht groß genug, um zum Beispiel Ressourcen für ein strategisches Personalmanagement aufwenden zu können. Sie laufen als Arbeitgeber daher Gefahr, im Wettbewerb um begehrte Fachkräfte ins Hintertreffen zu geraten.

Darüber hinaus wird sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt speziell im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) in Zukunft vor allem in Ostdeutschland noch zusätzlich verschärfen, denn hier liegt der Anteil der über 55-jährigen an allen MINT-Beschäftigten in den meisten Kreisen bei über 20 Prozent. Deutschlandweit übersteigt die Zahl der offenen MINT-Stellen schon jetzt die Zahl der Arbeitssuchenden. Gerade bei beruflich qualifizierten Fachkräften gibt es bereits Engpässe, die sich langfristig noch verstärken könnten. Aktuell liegt die MINT-Fachkräftelücke in Deutschland gemäß MINT-Herbstreport des IW Köln bei über 210.000, davon 66 Prozent Nicht-Akademiker (Facharbeiter, Meister, Techniker). In den neuen Ländern fehlen dabei vor allem Fachkräfte in den Bereichen Metallbau/Schweißtechnik, Feinwerk- und Werkzeugtechnik sowie Farb- und Lacktechnik.

Nicht zuletzt der Wettbewerb um ausländische Beschäftigte stellt ostdeutsche Unternehmen bei der Sicherung des MINT-Fachkräftenachwuchses vor besondere Probleme. Während der Anteil ausländischer Arbeitskräfte an allen MINT-Beschäftigten deutschlandweit seit Ende 2012 überproportional zunahm, ist deren Anteil in den neuen Ländern vergleichsweise gering (vgl. MINT-Herbstreport des IW Köln). Als Folge daraus liegen in vielen ostdeutschen Unternehmen kaum Erfahrungen mit der Integration ausländischer Beschäftigter vor. In Westdeutschland bestehende Netzwerke, durch die ein Wirtschaftsstandort an Attraktivität für Zuwanderer gewinnt, fehlen. Der Einsatz von Fachkräften aus dem Ausland lohnt sich dabei aber gerade für den Mittelstand. Das belegt eine Studie, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2014 veröffentlicht hat.

Was tun?

Um den Bedarf an Fachkräften künftig decken zu können, müssen wir einerseits alle inländischen Potentiale mobilisieren, die bisher noch nicht erreicht werden konnten. Dazu gehört insbesondere eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, von Menschen mit Behinderung, von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Menschen mit Migrationshintergrund. Das alleine wird jedoch nicht ausreichen, es müssen auch gezielt Fachkräfte aus dem Ausland angeworben und gewonnen werden. Die gemeinsame Fachkräfte-Offensive des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und der Bundesagentur für Arbeit (BA) bündelt hierzu Informations- und Unterstützungsangebote für Öffentlichkeit und Unternehmen, u. a. mit dem vom BMWi 2012 gestarteten mehrsprachigen Onlineportal „Make it in Germany“ (www.make-it-in-germany.com). Hier können sich internationale Fachkräfte über Möglichkeiten und Karrierechancen auf dem deutschen Arbeits- und Ausbildungsmarkt informieren.

Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind von Fachkräfteengpässen besonders betroffen und gefordert, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, um dem gegenzusteuern. Daher unterstützt das vom BMWi geförderte Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (www.kofa.de) mit passgenauen Angeboten speziell KMU dabei, als Arbeitgeber attraktiver zu werden und mit qualifizierten Belegschaften wettbewerbsfähig zu bleiben.

Auch im Hinblick auf die Integration ausländischer Beschäftigter können Unternehmen neben dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung auf verschiedene flankierende Maßnahmen des BMWi zugreifen: 150 überwiegend bei den Kammern angesiedelte „Willkommenslotsen“ unterstützen KMU beispielsweise bei der Besetzung von offenen Stellen, Praktikums- und Ausbildungsplätzen mit Flüchtlingen sowie bei der Etablierung einer entsprechenden Willkommenskultur. Die von mir gemeinsam mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gestartete Initiative „study&work“ verfolgt das Ziel, mehr internationale Studierende an deutschen Hochschulen zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen und in den regionalen Arbeitsmarkt (insbesondere KMU) zu integrieren. Sechs dieser insgesamt zehn geförderten Vorhaben liegen in den neuen Ländern.

Darüber hinaus gilt es, die Attraktivität von MINT-Berufen zu steigern und Schülerinnen und Schüler bereits in frühen Jahren für einen technischen Ausbildungsgang zu begeistern. Ein Beispiel dafür, wie dies unterstützt werden kann, sind etwa die Schülerlabore des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) oder der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) im Geschäftsbereich des BMWi.

Duale Berufsausbildung und Fachkräftesicherung

Über all diesen Bemühungen um Fachkräfte darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Unternehmen den Schlüssel für die passgenaue Sicherung ihres Fachkräftebedarfs mit dem System der dualen Berufsausbildung selbst in der Hand halten!

Die Rahmenbedingungen für die betriebliche Ausbildung setzt dabei vor allem das BMWi als Verordnungsgeber für gut 300 der insgesamt 327 dualen Berufe. Bei der Novellierung der Ausbildungsordnungen wird unter Einbeziehung von Sachverständigen aus Betrieben, Verbänden, Gewerkschaften und Berufsschulen sichergestellt, dass stets die aktuellen Techniken, zeitgemäße Prozesse und fortschrittliche Verfahren berücksichtigt werden. Beruflich Qualifizierte erreichen so gerade in MINT-Berufen häufig ein Niveau, das in vielen anderen europäischen Staaten nur universitär erlangt werden kann. Die beruflich qualifizierten Techniker und Meister sind im nationalen Qualitätsrahmen (DQR) und im europäischen Qualitätsrahmen (EQR) dem akademischen Grad eines Bachelors gleichgestellt. Dabei hat die betriebliche Ausbildung durch ihre Praxisnähe Vorteile. Sie trägt zudem dazu bei, dass Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa aufweist.

Allerdings gerät die Bedeutung der dualen Berufsausbildung gegenüber der Akademisierung immer mehr ins Hintertreffen: Während sich der Anteil der Studienanfänger in den letzten Jahren deutlich erhöht hat, wählen immer weniger junge Menschen den Weg einer betrieblichen Ausbildung. Gerade in den technischen Branchen beklagen Betriebe zunehmend, ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen zu können. Die Wirtschaft sollte sich hier jedoch nicht in einen Wettbewerb mit den Hochschulen um die besten Köpfe begeben, sondern frühzeitig, noch während der Schulzeit, junge Menschen umwerben und für eine betriebliche Ausbildung gewinnen. Wir dürfen die Haupt- und Realschüler nicht aus dem Blick verlieren!

Mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung hat sich die Bundesregierung unter Federführung des BMWi gemeinsam mit Wirtschaft, Gewerkschaften, Ländern und der BA daher das Ziel gesetzt, die duale Ausbildung in Deutschland zu stärken und für die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung zu werben. Die Partner der Allianz haben zentrale Maßnahmen auf den Weg gebracht (u. a. Start des neuen Förderinstruments „Assistierte Ausbildung“ zum Ausbildungsjahr 2015, Ausweitung der ausbildungsbegleitenden Hilfen, intensives Werben für mehr betriebliche Ausbildungsplätze[1]).

Für eine gelungene frühzeitige Ansprache von Jugendlichen gibt es vielfältige nachahmenswerte Ideen und praxiserprobte Methoden. Diese möchte das von mir im Rahmen des Projekts „Stärken fördern – Perspektiven aufzeigen – KMU einbinden“ geförderte Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT Ostdeutschland verbreiten, um so ostdeutsche Betriebe bei der Fachkräftegewinnung zu unterstützen und den Wirtschaftsstandort zu stärken. Ich würde mir wünschen, dass sich möglichst viele ostdeutsche Unternehmen daran beteiligen und sich bereits heute aktiv um die Sicherung ihres Fachkräftebedarfs von morgen kümmern! Wie notwendig das ist, belegt auch und erneut der im Herbst letzten Jahres von mir vorgestellte Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit.

Ohne Fachkräftesicherung keine Angleichung der Lebensverhältnisse!

Auch über ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung hinkt die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Länder noch immer deutlich hinter der in den alten Bundesländern her. So beträgt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner mittlerweile zwar 72,5 Prozent des Westniveaus, insgesamt hat sich der Aufholprozess der ostdeutschen Länder in den vergangenen Jahren jedoch deutlich abgeschwächt. Wir haben in den zurückliegenden 26 Jahren schon viel erreicht, was die Angleichung der Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands anbelangt, aber es gibt nach wie vor Bereiche, in denen eine Menge zu tun ist, etwa bei den Löhnen, die nach wie vor deutlich unter denen im Westen liegen. Die ostdeutschen Tariflöhne erreichen zwar mittlerweile durchschnittlich 97 Prozent des Westniveaus, aber die Effektivlöhne liegen durch die vergleichsweise geringe Tarifbindung in Ostdeutschland lediglich bei 81 Prozent. Dabei hat die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 insbesondere in Ostdeutschland zu einer Anhebung der Löhne geführt: Im Osten waren hiervon immerhin 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse betroffen, im Westen lediglich 8,9 Prozent. Aufgrund dessen hat sich der Lohnunterschied zwischen Ost und West durch die Einführung des Mindestlohns erstmals seit vielen Jahren deutlich verringert.

Auch bei der Arbeitslosigkeit gibt es nach wie vor deutliche Unterschiede, wenngleich sich hier die Quoten in den letzten Jahren ebenfalls immer mehr angenähert haben. So lag die durchschnittliche Arbeitslosenquote 2016 in Ostdeutschland bei 8,5 Prozent, in Westdeutschland bei 5,6 Prozent - Anfang der 2000er Jahre hatte diese Differenz noch bei zehn Prozentpunkten gelegen.

Gründe, sich auf dem Erreichten auszuruhen, sind nach wie vor nicht in Sicht. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West bleibt eine zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe – und eine gute wirtschaftliche Entwicklung ist ein entscheidender Schlüssel hierfür! Ohne die Sicherung eines adäquaten Fachkräftenachwuchses gerade auch in technischen Berufen kann dies nicht gelingen. Denn wirtschaftlicher Erfolg, Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sind untrennbar mit gut qualifizierten, engagierten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verbunden.


[1] Siehe auch www.aus-und-weiterbildungsallianz.de.

Iris Gleicke, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Ost-, Mittelstands- und Tourismus-Beauftragte der Bundesregierung